Kantine des Westens

Berliner Morgenpost

 

Tradition, Familie, Stammkundschaft. Das sind Begriffe, die bei Rogacki zählen. Das Feinkostgeschäft in der Wilmersdorfer Straße hat alte Werte bewahrt und neue Freunde gefunden

 

Von Silvia Meixner

Det macht acht Euro, junge Frau!», ruft der Fischverkäufer fröhlich über den Tresen. Die junge Frau ist mindestens 70 – det is Berlin. Auch «junge Männer» müssen sich hier nicht mehr im Stabhochsprung behaupten. Man sollte Neu-Berliner oder Menschen, denen die Liebe zu ihrer Stadt verloren gegangen ist, an die Hand nehmen und mit ihnen zu Rogacki in der Wilmersdorfer Straße gehen. Hier ist die Welt noch in Ordnung: unterteilt in junge Frauen, Meister (die Fischverkäufer) und den Rest der Menschheit, der allerdings nicht von großer Bedeutung ist, weil er woanders einkauft. Das ist, zumindest aus Sicht des Rogacki-Stammkunden, ein Fehler. Dann gibt es nämlich keine liebevoll geformten Butterteile in Tierform, im Internet (https://www.rogacki.de/) fürsorglich mit «unsere netten Butter-Igel» beworben. So, als wollte man sie im Grunde gar nicht verkaufen, weil sie doch irgendwie zur Familie gehören. Es gibt auch Käse-Igel, die scheinen robuster. Sie thronen auf dem Buffet dann gern auf einer echten Ananas und verkörpern ein bisschen die Zeit, als eine echte Ananas noch etwas Magisches hatte und man selbst die Stückchen aus der Dose für ein Stück der großen, weiten Welt hielt. Das Hackepeter-Schwein liegt, umrankt von Zwiebelringen und Radieschen, auf einem kleinen Holzbrett. Als Zierde gereichen Olivenaugen und ein Paprika-Schwänzchen. Das Hackepeter-Schwein wirkt so altmodisch, dass man es sofort ins Herz schließen muss. Glaubt man dem Werbeprospekt, so ist das Tier ein «gern gesehener Gast auf Veranstaltungen jeder Art».

Am besten, man kommt am Samstagvormittag, wenn alle Zeit haben für eine kleine Fachsimpelei über die 70 Fischsorten, die einen Großstadtmenschen in tiefe Ratlosigkeit stürzen können. Kinder werden an der Hand genommen und an die Fischbecken geführt: Schau, so sieht ein Hummer aus, so ein Karpfen, dort hinten schwimmt ein Aal. Und bald werden wir ihn essen, so sind wir Menschen.

Es ist die Zeitlosigkeit, die diesen Ort ausmacht. Man braucht keine Uhr, Zeit wird unwichtig, weil es plötzlich so viel bedeutendere Dinge gibt: Nehmen wir den Kartoffelsalat mit oder ohne Mayonnaise, welchen Käse werden wir morgen früh haben wollen und welches Brot dazu? Es ist nicht wie im Supermarkt, den man am liebsten so schnell wie möglich wieder verlassen möchte, weil Supermärkte keine Orte der Lebensfreude sind. Sie sind ein Muss, die Pflicht. Das Rogacki hingegen ist die Kür.

In diesem Geschäft ist Berlin noch West-Berlin und der Begriff «bürgerlich» keine Beleidigung, sondern Geschäftsphilosophie. Gnädige Frauen gibt es hier nicht. Viele der «jungen Frauen» haben tatsächlich schon als Fräulein hier die Bratenplatte oder die «Rogacki-Bouletten-Pyramide» für den besonderen Anlass gekauft. Die Spaßgesellschaft hat ihre «besonderen Anlässe» verloren. Wo das Leben jeden Tag eine Party ist, braucht man keinen altmodisch anmutenden «Delikatessen-Partyservice» mehr. Man ernährt sich dann von Sushi, Tramezzini, Muffins, lächelt über Hackepeter-Schweine und über den Ort, an dem sie hergestellt werden. Aber wer einmal bei Rogacki war, kommt bestimmt wieder. Weil ein Fleischsalat nach «altem Familienrezept» den Hunger nach einer besseren Welt stillt und die Rote Grütze garantiert gegen Liebeskummer hilft. Rogacki ist ein Familienbetrieb seit 1928, das Personal arbeitet zum Teil schon seit Jahrzehnten hier. Wer zum ersten Mal einkauft, läuft Gefahr, Neid auf die Stammkunden zu entwickeln. Denn ein bisschen ist es wie im Dorf. Wer neu ist, muss sich erst behaupten, bevor er in die Geheimnisse eingeweiht wird. Was Stammkunden alles erfahren: Die besten Rezepte und warum Frau K. sich scheiden lässt. Und dass der Noch-Gatte jetzt jeden Tag hier isst. Die Stehtische mit den giftgrünen Plastikdecken bieten ihm, der zu Hause nicht länger bekocht wird, nun Asyl. Sie stellen keine Fragen, sie meckern nicht. Wenn Herrn K. nach Gesellschaft ist, kann er sich «Lustige Gesellen» bestellen. Das sind viereckig geschnittenen Vollkornbrote, auf denen kunstvolle Türmchen aus Fisch, Wurst oder Käse stehen.

Kein Mensch würde auf die Idee kommen, in Mitte nach «Lustigen Gesellen» zu fragen. Denn in Mitte ist alles schick, anders, anders schön. Nach der Wende dachte Dietmar Rogacki an ein Geschäft im Ostteil der Stadt: «Viele gingen nach Mitte, das war schon verlockend. Aber wir machen lieber ein Geschäft zu 200 Prozent als mehrere halbherzig.» Der Chef, der als Kind hier die Sardinenbüchsen gestapelt hat, muss täglich anwesend sein. Er muss die Stammkunden hegen, die derzeit jeden Euro so vorsichtig in Spezialitäten investieren. Aber zu besonderen Anlässen darf es dann die Edelfisch- oder die Hummerplatte sein. Und ein bisschen von dem, das Rogacki so berühmt gemacht hat: Räucherfisch. Forellen, Makrele, Bückling und Aal, frisch aus den uralten Räucheröfen ganz hinten rechts in der Ecke. Folgen Sie dem Geruch.

Vor Rogacki wartet der Gatte gern im Wagen, in zweiter Spur, derweil die Ehefrau die Einkaufsliste abarbeitet. Alte, klapprige VWs sind ebenso vertreten wie polierte Cabrios. Entweder vertreibt sich der wartende Mann die Zeit mit Zeitunglesen oder er nimmt, ermattet vom Chauffieren, einen kleinen Imbiss an einem der Stehtische ein. «Bei uns steht der Mann von der Müllabfuhr neben dem Rechtsanwalt», sagt Dietmar Rogacki. Und die Herren finden garantiert ein Gesprächsthema. Weil bei Rogacki niemand blasiert ist. Auch das ist Teil der Geschäftsphilosophie.

Bei Fisch und Fleisch drängt man sich Hüfte an Hüfte, der kleine Stand mit Nudelsalaten und Rohkost hingegen ist häufig leer. Zu Rogacki kommt man nicht, weil man Kalorien sparen will. Hier hungert der Gast nach einem großen Stück Fleisch, und wenn der Mann hinter der Theke beim Kartoffelsalat spart, kassiert er finstere Blicke. Tut er aber nicht. Es werden nämlich jeden Tag 500 Kilo Kartoffeln verarbeitet. «Wir haben einmal bereits geschälte Kartoffeln bestellt, sie schmeckten ekelig», sagt der Geschäftsführer. Seitdem wird wieder per Hand geschält. Das dauert zwar länger, aber die Kunden sollen zufrieden sein. Bisweilen hängt das Glück des Menschen an so Schnödem wie Kartoffelschalen.

Von den 70 Sorten Salat werden 68 selbst hergestellt, viele nach alten Familienrezepten. Und sofort ist es wieder da, dieses Gefühl, dass irgendwo da hinten bestimmt eine gut gelaunte Oma steht, die das Familienrezept natürlich längst im Kopf hat und nun die ganze Stadt mit ihrem Eier-, Gemüse- oder Waldorfsalat verwöhnen will.

Sie sehen alle glücklich aus, die Samstagvormittag-Kunden, die in der «Stadtküche» speisen. Stadtküche, das steht auf der Plastiktüte und klingt nach Omas Rezepten, einem der wenigen Rettungsanker in der Großstadt. Trotzdem sprechen fast alle den Namen dieses wunderbaren Ortes falsch aus. Dietmar Rogacki ärgert das. Seine Familie stammt aus Ostpreußen, deshalb bitte «Roga-z-ki». Manchmal, wenn er Zeit und gute Laune hat, macht er seinen «kleinen Taxifahrertest»: Er nennt dem Droschkenkutscher seinen korrekten Namen. «Die meisten drehen sich empört um und sagen: ¸Sie, das heißt Rogacki, mit ¸k´!» Herr Rogacki lächelt dann schweigend in sich hinein. Im Taxi ist er König. Aber morgen schon könnte der Taxifahrer bei ihm Kunde und damit König sein. Und Könige korrigiert man nicht.