Dienstleister am Rollmops

Frankfurter Rundschau

 

Bei Rogacki isst West-Berlin, denn Rogacki ist West-Berlin

 

Von Ullrich Fichtner

Im Alltag des Marktes formiert sich die Ware zum Stillleben. Äpfel und Birnen vergleichen ihre Schönheit und konkurrieren dieser Tage, am Ende des Sommers, mit den letzten Pfirsichen der Saison. Der Kohl regiert bald wieder, Gott bewahre, dann wird Winter sein und aus den Märkten verschwinden die Farben und Formen des Südens. Der arge Zustand ist noch auf einige Wochen fern, noch wird fündig, wer Frische sucht und Buntheit. Und wer, ab und an, West-Berlin noch mit der Seele sucht, den zieht es samstags zur Wilmersdorfer Straße, auf jenen Abschnitt, wo die Betonwellen der “Fußgängerzone” ins Vorstadt-Idyll nördlich der Bismarckstraße verebben.

Ein Idyll, zweifellos, die Kreuzung gleich bei der Zillestraße, wo am frühen Nachmittag vergessene Tomaten auf dem Boden rollen und Traubenreste sich verwischen. Schräg gegenüber schlägt das Herz des Quartiers mit Namen: Rogacki. Zu sprechen nicht wie Reich-Ranitzki, sondern mit ganz hartem K. Rogakki also, gegründet 1928, seit 1932 eben hier am Ort, damals: erste Charlottenburger Fischräucherei, heute: größtes begehbares Stillleben der Altberliner Schule, wo sich Hummer mit Gurke und Rollmops mit Ruccola paaren, wo zum Brathering Chablis und zur Auster Kaffee gereicht wird, nach Belieben. Und wo die Berliner Schnauze endlich mit Kalbsherz kann und die Verkäuferinnen Ochsenschwanz nicht ausschließlich für Hundefutter halten.

Rogacki: “Treffpunkt für alle Frühaufsteher”, wie die Eigenwerbung verspricht. Aber eben auch “Treffpunkt für die Berliner Feinschmecker”, weil mächtig aufgetrumpft wird mit großer “Delikatessen-Palette”. Als stünde die Kochbuch-Ästhetik der siebziger Jahre noch in vollem Saft, hält der Rogacki-Party-Service bereit: Die Salatauswahl “Cabaret”, den gemischten Brotzeitteller “Lustige Gesellen”, diverse “Schwedenplatten” und natürlich die Rogacki-“Spezial”: Aal, Forelle, Lachs, tatsächlich “mit Butter und Sahnemeerrettich”.

Rogacki ist so ganz und gar und vor allem anderen West-Berlin, weil das gute Leben doch nur die “Fettlebe” ins Bild setzt. Offen gezeigt wird, was Küche und Keller hergeben und immer darf’s ein bisschen mehr sein, reichlich, deftig, manchmal auch: fein. Rogacki ist die einzelhändlerische Entsprechung zu jenem Charlottenburger Kellner, der einst die zweite Flasche Wein brachte, die erste, ausgetrunkene aber nicht abräumte, und der zur Begründung sagte: “Damit die anderen Gäste sehen, was Sie sich so leisten können.”

Wer zu Rogacki geht, leistet sich. Die Dame aus dem Kiez, die einmal im Monat ihre Kleinrente in 50 Gramm Krabbensalat investiert; die japanische Studentin, die sich vom rohen Thunfisch aus Costa Rica die Extra-Portion gönnt; die Geschäftsleute aus der Umgebung, die ihre Schlipse in den Mittagstisch tunken oder Weißwürste auf berlinerisch, mit Messer, Gabel und scharfem Senf, verzehren. Auch finden sich Hobby-Köche, die in lüsterner Vorfreude Wachteln oder ganze Rehrücken nach Hause schleifen, oder Hausfrauen, die auf Pfeffermakrelen schon zum Frühstück schwören. Rogacki hat, was der Altberliner an Lebensmitteln braucht und der Neuberliner in der Stadt ansonsten oft schmerzlich vermisst. Rogacki isst Berlin. Was sich auch über sein Personal sagen lässt.

Die Damen und Herren am Fisch sind mal mürrisch, mal nett, geradeaus sind sie immer. Mit stoischer Miene wiegen sie Steinbuttfilet ab und fragen beim Kunden lauthals nach, ob 168,90 Mark wohl “in Ordnung” wären. Beim Fleisch, wo die Buletten “Pferdeäppel” heissen, aber auch Tafelspitz zu haben ist, regieren die bulligen Typen, beim Wild und Geflügel wird mehr gelacht als sonst im Geschäft, nur beim Brot ist die Stimmung ähnlich gut, weil eine rothaarige Sächsin den Laden am Lachen hält. Vornehmer das Personal an den Gourmet-Inselchen inmitten der Halle, wo die Farben des Schalentiers dominieren, rotwangig dagegen die Dienstleister an Rollmops und Gurken, Dirigenten zugleich einer gewaltigen Sinfonie aus Essig und Öl. Rogacki. Ein Kosmos im Wendekreis des Krebses. Ein Kunstlied, gesungen von Fischen. Ein Gemälde, in den Farben des Fleisches. Und doch: ein Geschäft nur, in West-Berlin.